[Zeitsprung]
Lucien war nicht gerade motiviert. All das hier langweilte ihn. Nun gut, langweilte nicht, aber er hätte eigentlich mehr Lust auf Kunst und Design gehabt, doch er wusste, dass er in Mathematik gehen musste.
All diese Menschlichkeit nervte ihn, doch er ließ sich nichts anmerken.
Seufzend ließ er sich in einer der Reihen nieder, packte seine Unterlagen, die noch gänzlich ungefüllt waren - das Jahr hatte immerhin gerade erst angefangen -, aus und kramte ein wenig sinnlos darin herum, nur, um beschäftigt zu wirken.
Er wollte in Ruhe gelassen werden, wollte nicht sprechen. Er wollte nur diese Vorlesung hinter sich bringen und dann wieder gehen. Doch er musste noch in Psychologie gehen, das hatte er vergessen.
Er durfte nicht vergesslich, durfte nicht menschlich werden!
Er musste stark bleiben! Es hing am seidenen Faden, er durfte keinen Fehler machen. Es hing alles von ihm ab.
Lucien dachte an seinen Vater, an seine Heimat. Er dachte an das Fliegen und schlug seinen Ordner zu, verschränkte die Arme vor der Brust. Er war sich sicher, dass sein Vater ihn nur quälen wollte. Doch schon verbot er sich diese Gedanken. Er musste loyal bleiben, durfte nicht abweichen vom Plan.
Emotionslos starrte er an die Tafel, doch eigentlich nahm er nichts wahr, nein, er war in Gedanken versunken. Angreifbar, verletzlich.
Rasch riss er sich aus seiner Traumwelt, blickte sich um. Einige andere Studenten hatten sich bereits niedergelassen, sie mieden seine Reihe. Verständlich. Die Aura, die Lucien umgab, war abstoßend, wie anziehend zugleich. Sie war düster und bei genauerem Hinsehen ein wenig angsteinflößend.
Beinahe hätte Lucien gelächelt, doch nur beinahe. Ja, so mochte er es. Einsam.
Das Jahr würde zäh sein, er wusste es. Die Vorbereitungen waren zwar im vollen Gange, doch die Zeit zwischen diesen dummen, schwachen Menschen würde zäh laufen, wie Lawa. Es war wie ein Hefeteig, erst noch ganz klein und schließlich ganz ganz langsam aufgegangen zu einem riesigen Klumpen, der alles erdrücken würde.
Der Vergleich war furchtbar und das wusste Lucien sogar selbst. Er durfte nicht nachlassen, er musste stark bleiben.
Wo waren seine Untergebenen? Bis jetzt hatte er einen Einzigen gefunden, wo war der Rest? Er konnte doch nicht auf sich allein gestellt sein mit einem einzigen Lakein? Das konnte sein Vater nicht ernst meinen!
Konzentration, Lucien, Konzentration.
Seine Gedanken wirbelten. Diese Aurora... sie hatte etwas an sich, dass ihn einschüchterte und in Kampfhaltung gehen ließ. Er wusste, dass er stärker war als sie, auf jeden Fall. Selbst wenn sie ein Engel war, er war stärker als sie.
Niemand kam gegen ihn an.